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Schmetterlinge und Schwellenphänomene

Ein Marktbericht von Arndt Kümpel

Sie kennen bestimmt die Metapher vom Flügelschlag des Schmetterlings am Amazonas, der einen Hurrikan in der Karibik auslöst. Es geht dabei um ein Phänomen der nichtlinearen Dynamik, der Sensibilität unter Anfangsbedingungen.

Dieser Schmetterlingseffekt tritt bei Systemen auf, die deterministisches chaotisches Verhalten aufweisen und die charakterisiert, dass beliebig kleine Unterschiede in den Anfangsbedingungen im Zeitablauf zu starken Unterschieden im System führen, sie sind deshalb sensitiv abhängig von den Anfangswerten. Nun können sich solche komplexen Dynamiken nicht nur beim Wetter, sondern ganz generell überall bilden, auch bei sozialen Systemen, deren Politik und Ökonomie, und eben auf deren Kapitalmärkten.

Neben der Sensibilität unter Anfangsbedingungen tritt eine weitere Eigenschaft insbesondere an den Kapitalmärkten viel häufiger auf als in der Theorie erwartet, nämlich Schwellenphänomene. Das jeweilige offene System geht, wenn es eine Instabilitätsschwelle überschreitet, in eine neue Struktur über. Die Schwelle ist hierbei das Ordnungsprinzip. Die Überschreitung von Schwellenwerten kann etwa durch Resonanz geschehen, bei der sich eine Eigenschaft eines Systemteiles auf einen anderen überträgt.

Schwellenphänomene treten an den verschiedensten Punkten des Kapitalmarktes auf. So etwa als Zinsempfindlichkeit der Spareinlagen von Banken, was vor allem für jene relevant ist, die mit der Abschaffung von Bargeld und mit der Einführung von Negativzinsen im großen Stil liebäugeln. Des Weiteren die Verlustsensitivität von Vermögensanlagen, vor allem mit niedriger Toleranzschwelle wie beim Kapitalschutz, die zu einem lawinenartigen Verkaufsdruck bei diesen Anlagen führen kann und bei der das System eine Eigendynamik entwickelt, die ohne äußere Einflussnahme abläuft.

Und schließlich wäre da noch das Phänomen des Unterschreitens eines bestimmten Niveaus von generalisiertem Vertrauen, das insbesondere ökonomische Systeme benötigen. Eine kurze Erinnerung an die Finanzkrise ist der erdrückende Beleg für seine heutige Relevanz. Damals gingen lange Schlangen vor den Filialen der damals achtgrößten britischen Bank Northern Rock durch die Medien, weil über das Wochenende vom Freitag, dem 14.09.2007, bis Montag, dem 17.09.2007, die Kunden der Bank aus Angst um ihr Vermögen rund 2 Milliarden Pfund abhoben und so die bereits bestehende Liquiditätskrise der Bank verstärkten. Was braucht man noch, um den engen Zusammenhang von Vertrauen, Liquidität und institutioneller Stabilität des Bankensektors nachzuvollziehen? Die Angst ist also der Ausbreitungsweg und wird durch das Herdenverhalten des Primaten Mensch eigendynamisch verstärkt.

Die Eigendynamik, die diesen Prozessen innewohnt, konterkariert nur zu oft die Pseudogewissheit von Entscheidern, ihrer Strategien und Businesspläne. Das Phantom der Gleichgewichtsidee in der Theorie ist dabei eine nervenberuhigende Pille, die Geduldspotenzial für weitere Entwicklungen schafft, und welche sich dann aber nur zu oft als ungerechtfertigt entpuppt. Denn Geduld als Handlungspuffer von Schwellenphänomenen kann als negative Rückkopplung ein System nach Überschreiten der Instabilitätsschwelle eigendynamisch destabilisieren.

Übrigens: Eduard Lorenz, der den Schmetterlingseffekt zuerst beschrieb, starb im April 2008 mit 90 Jahren. Eine Erinnerung an sein Werk hätte viele promovierte Mathematiker ins Grübeln bringen müssen, die in den Türmen der Investmentbanken mittels Simulation und Backtesting eine Scheinsicherheit von Ablauffiktionen ihrer Cashflows und Pseudowerthaltigkeit der von ihnen verkauften Anlageprodukte für den Kapitalmarkt produzierten. Deren plötzliches Verschwinden in der kurz darauf ausbrechenden Finanzkrise produzierte Billionen Euro Verluste, die dann im Anschluss sozialisiert wurden.

Am Stammtisch hätte man keine komplexen Modelle gebraucht, sondern einfach gesagt: ,,Im Schnitt war der Bach 50 Zentimeter tief, trotzdem ist die Kuh ersoffen.‘‘ Wer seine Kuh (Vermögen) behalten will, der überlässt die Verantwortung dafür nicht ungeprüft anderen. Umso mehr, als dass die Banken seither kaum erkennen lassen, dass sie sich wirklich gebessert haben. Permanente Kostensenkungsrunden und erhöhter Vertriebsdruck sind jedenfalls nicht der Stoff, aus dem ein Happy End bei der Geldanlage gestrickt wird.

 

04.02.2019 - Arndt Kümpel - a.kuempel@emh-group.de

 

 

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